EU-Forststrategie: „Natur verliert, Industrie gewinnt“

15. Okt 20

In einer nicht-legislativen Entschließung, die mit 462 zu 176 Stimmen bei 59 Enthaltungen angenommen wurde, forderten die EU-Abgeordneten: Die EU sollte Waldbewirtschaftungsmodelle fördern, die sicherstellen, dass die Wälder ökologisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich nachhaltig sind. Die EU-Forststrategie der Kommission für die Zeit nach 2020, die Anfang 2021 vorgelegt werden soll, sollte unabhängig und eigenständig sein, sich am Europäischen Green Deal orientieren und sicherstellen, dass die Wälder weiterhin eine multifunktionale Rolle spielen können, so das EU-Parlament. Die im Rahmen des Europäischen Green Deals geplante Veröffentlichung einer neuen Forststrategie der EU-Kommission ist für das erste Quartal 2021 angesetzt.

 

Dabei hob das EU-Parlament drei Ziele für die EU-Forststrategie hervor:

1) die Unterstützung nachhaltiger Waldbewirtschaftung und verantwortungsbewusster Eigentümer*innen, 2) die Stärkung der Katastrophenresilienz und der Frühwarnmechanismen zur Verhütung von Waldbränden sowie 3) die Bekämpfung der Einfuhr von illegal gefälltem Holz.

 

Rentabilität und Umweltverträglichkeit des Sektors erhalten

Nachhaltige Forstwirtschaft (Sustainable Forest Management, SFM) soll die Anpassungsfähigkeit der Wälder an sich verändernde Klimabedingungen erhöhen und ihre ökologische, aber auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Nachhaltigkeit fördern, so die Abgeordneten. Waldbesitzer, die SFM-Prinzipien anwenden, sollten eine bessere finanzielle Unterstützung erhalten, einschließlich neuer spezifischer Hilfen für Natura-2000-Gebiete, und einen gerechten Ausgleich für wirtschaftliche Verluste erhalten, die durch die Einführung von Schutzmaßnahmen verursacht werden.

 

Katastrophen: EU-Wälder müssen widerstandsfähiger werden

Die neue Strategie, so die Abgeordneten, solle dazu beitragen, die europäische Katastrophenresilienz und die Frühwarnsysteme zu stärken, um die Vorbeugung und Bereitschaft, zum Beispiel für Brände, Überschwemmungen oder Schädlingsbefall, zu erhöhen. Sie fordern, dass die Auswirkungen des Klimawandels auf Waldbrände wirksam eingedämmt werden und bestehen auf eine angemessene Finanzierung von Forschung und Innovation, um die Wälder klimaresistenter zu machen.

 

Mit Holz bauen und illegalen Holzeinschlag bekämpfen

Die Abgeordneten drängen auch darauf, dass Holz als nachhaltiges Bauwerk und nachwachsender Rohstoff stärker gefördert wird. Sie fordern darüber hinaus, dass der Kampf gegen den illegalen Holzeinschlag intensiviert wird und importierte Produkte leichter rückverfolgbar sein sollten. Außerdem bestehen sie darauf, dass die EU weltweit mehr für die Förderung einer nachhaltigen Forstwirtschaft tun sollte. Nachhaltige Forstbewirtschaftung soll finanziell gefördert und ökonomische Nachteile durch Naturschutzmaßnahmen ausgeglichen werden. Auf diese Weise soll die künftige EU-Forststrategie eine qualitativ hochwertige Bewirtschaftung der Forsten und Wälder in der EU gewährleisten.

"Wälder sind für uns alle von enormer Bedeutung. Wir dürfen uns daher mit nichts weniger als einer ehrgeizigen und eigenständigen EU-Strategie begnügen, die ein Gleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit unserer Wälder und Waldgebiete herstellt, ihre Widerstandsfähigkeit fördert und uns auf dem Weg zu einer Kreislaufwirtschaft unterstützt", sagte der Berichterstatter Petri Sarvamaa (EVP, Finnland).

 

FERN: „Zu große Nähe zur Industrie“

Die Waldschutzorganisation FERN kritisierte allerdings die zu große Nähe zur Industrie und fehlenden Naturschutz. FERN nannte das Ergebnis "verwirrend". Die Abgeordneten hätten sowohl erklärt, dass sie den Verlust der letzten verbliebenen natürlichen Wälder der Welt stoppen wollen, als auch vor der Industrie kapituliert und für einen intensiveren Holzeinschlag gestimmt. Letzterer sei die größte Bedrohung für die Überreste der einst riesigen Naturwälder Europas. „Der Bericht widerspricht der Wissenschaft, indem er den katastrophalen Zustand der europäischen Wälder ignoriert“, kritisiert FERN-Expertin Kelsey Perlman. „Anstatt auf den Willen der Europäerinnen und Europäer zu hören, die mit überwältigender Mehrheit Maßnahmen zum Schutz der Natur wollen, hat das Parlament die schlechte Waldgesundheit (...) ignoriert.“

Der agrarpolitische Sprecher der Grünen im EU-Parlament Martin Häusling hatte bereits im Vorfeld der Abstimmung argumentiert, dass die vom Agrarausschuss vorgelegten Vorschläge „nicht tragbar“ seien, „besorgniserregend“ sei zudem die Schwerpunktsetzung Nutzung vor Bewahrung. „Das Argument, Holz sei als nachwachsender Rohstoff klimafreundlich, ist einfach falsch. Wir dürfen nicht weiter versuchen, unsere Klimabilanz zu beschönigen, indem wir Holz in Kohlekraftwerken verfeuern“, kritisierte Häusling. Zudem brauche es für die „multifunktionale Nutzung“ der gestressten Wälder inzwischen vermutlich einen „Extra-Planeten“ (Hintergrundpapier Waldnutzung).

 

Studie zu Europas letzten Urwäldern: Zustand "insgesamt gefährdet"

Erst Mitte September hat ein internationales Forscherteam unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) eine erste europaweite Bewertung zur Verbreitung und zum Schutzstatus weitestgehend unberührter Wälder vorgelegt. Demnach seien trotz ihres ökologischen Wertes viele Primärwälder nicht ausreichend geschützt und würden weiterhin abgeholzt. Dabei müssten die Waldschutzgebiete Europas nur um ein Prozent ausgeweitet werden, um die meisten verbliebenen europäischen Urwälder zu schützen. Es sei „schockierend zu sehen, dass von vielen natürlichen Waldtypen überhaupt keine Primärwaldreste mehr übrig sind, insbesondere in Westeuropa“, sagte Studienautor Tobias Kümmerle (HU). 54 Waldtypen seien davor betroffen. Die gute Nachricht sei, dass eine Wiederherstellung gelingen könne, wenn auch langsam.

Wälder und andere bewaldete Gebiete bedecken derzeit etwa 43 Prozent der Fläche der EU. Sie erreichen mindestens 182 Millionen Hektar und machen 5 Prozent der gesamten Wälder der Welt aus. In Europa befinden sich 23 Prozent aller Wälder in Natura-2000-Gebieten. Wälder absorbieren über 10 Prozent der Treibhausgasemissionen der EU. Rund 60 Prozent der Wälder in der EU sind in Privatbesitz. Ein großer Teil davon sind kleine Waldbesitze (weniger als drei Hektar). Über 60 Prozent der produktiven Wälder in der EU sind zertifiziert, um die freiwilligen Standards für nachhaltige Forstwirtschaft zu erfüllen. Dieser Sektor beschäftigt mindestens 500.000 Menschen direkt und 2,6 Millionen indirekt in der EU.

 

EU-Parlament: Ausblick auf die Debatte (02.10.2020)

Pressemitteilung EU-Parlament (08.10.2020)

Reaktion FERN (08.10.2020)

Pressemitteilung Martin Häusling (06.10.2020): Spannende Abstimmung im Europäischen Parlament zur Forststrategie

Pressemitteilung Simone Schmiedtbauer (08.10.2020): "Aktive Waldbewirtschaftung ist entscheidend"

Studie zum Zustand der europäischen Urwälder/Pressemitteilung iDiV sowie Studienartikel in Diversity and Distributions

DNR