Nahrungsmittelkrise: Expert:innen fordern weniger Tierprodukte und grünere EU-Agrarpolitik

Im Vorfeld des Treffens der EU-Landwirtschaftsminister:innen Anfang der Woche hat ein Team von Forschenden eine Erklärung veröffentlicht. Darin haben sie betont, dass die Entscheider:innen in der Agrarpolitik von einer nachhaltigeren Landwirtschaft nicht abrücken sollten, nur um die Getreideproduktion zu steigern.

Angesichts des fortdauernden Kriegs drohen die Exporte aus der Ukraine und Russland unterbrochen zu werden. Die Forschenden betonen, dass eine Änderung der Nachfrageseite zu einem widerstandsfähigeren und nachhaltigeren globalen Ernährungssystem führen kann, anstatt sich nur auf die Angebotsseite wie beispielsweise für Tierfutter zu konzentrieren.

„Die weltweite Ernährungsunsicherheit wird nicht durch eine Einschränkung des Nahrungsmittelangebots verursacht. Sie wird durch ungleiche Verteilung verursacht“, sagt Sabine Gabrysch, Forscherin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) sowie an der Charité Berlin, eine der Mitautorinnen. Es gebe mehr als genug Nahrungsmittel, um die Welt zu ernähren, auch während des aktuellen Krieges. Allerdings werde das Getreide an Tiere verfüttert, als Biokraftstoff verwendet oder einfach verschwendet, anstatt hungrige Menschen zu ernähren. „Jetzt Umweltvorschriften aufzuweichen, um die Lebensmittelproduktion zu steigern, würde die Krise nicht lösen. Es würde uns vielmehr noch weiter von einem robusten Ernährungssystem entfernen, das gegen künftige Schocks gewappnet ist und eine gesunde und nachhaltige Ernährung ermöglicht“, erklärt Gabrysch.

Drei Hebel zur „Überwindung kurzfristiger Schocks“

In der über als 200 Expert:innen aus mehreren Ländern unterzeichneten Erklärung schlagen die Forschenden drei Hebel zur Überwindung kurzfristiger Schocks, zum Schutz menschlicher Gesundheit sowie Gewährleistung einer langfristigen nachhaltigen Entwicklung vor: 

1. Beschleunigung der Umstellung auf eine gesündere Ernährung mit weniger tierischen Erzeugnissen in Europa und anderen Ländern mit hohem Einkommen, wodurch sich die für Tierfutter benötigte Getreidemenge verringern würde;

2. Steigerung der Produktion von Hülsenfrüchten und weitere Ökologisierung der EU-Agrarpolitik, auch um die Abhängigkeit von russischem Stickstoffdünger und Erdgas zu verringern;

3. Verringerung der Lebensmittelverschwendung, weil etwa die Menge an verschwendetem Weizen allein in der Europäischen Union rund der Hälfte der Weizenexporte der Ukraine entspricht.

Zusätzliche kurzfristige Maßnahmen der europäischen Regierungen sollten die Bereitstellung von Mitteln für das Welternährungsprogramm zum Kauf von Getreide umfassen und die Aufrechterhaltung des Handels einschließlich des Handels mit Lebensmitteln von und nach Russland, heißt es in der Erklärung. Die sozialen Sicherungssysteme sollten in der gesamten EU gestärkt werden, um negative Auswirkungen der steigenden Lebensmittelpreise für arme Haushalte zu verhindern.

„Dieser schreckliche Krieg zwingt uns, etablierte Praktiken zu überdenken. Das gilt insbesondere auch im Ernährungssektor, der bereits jetzt Schockwellen erlebt, die von den Märkten übertragen und durch die Verwerfungen in der Ukraine und in Russland verursacht werden“, betont Mitautor Marco Springmann von der Universität Oxford. „Die Diskussion über Ernährungsumstellungen angesichts des Krieges ist wichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag, denn durch eine stärker pflanzlich basierte Ernährung anstelle von Fleisch wären in der Welt letztlich mehr Nahrungsmittel verfügbar, einfach weil die Tierproduktion ineffizient ist. Wir können und sollten auf die kurzfristige Krise in einer Weise reagieren, die auch geeignet ist, die langfristigen Krisen des Welternährungssystems zu bewältigen“, so Springmann.
 

Zenodo: Weblink zum Statement